GESCHICHTEN

Abtauchen in Fantasiewelten

“Nichts ist leichter, als so zu schreiben, dass kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, als bedeutende Gedanken so auszudrücken, dass jeder sie verstehen muss.”

– Arthur Schopenhauer (deutscher Philosoph)

Hier findest du Auszüge aus meinen Kurzgeschichten…

Lucille – Das Licht in Dir

Eine Geschichte über Selbstfindung und die Umwege und Ablenkungen auf dem Weg dorthin.

... Seine Augen sind erfüllt von Gier. Tim lässt sich dazu hinreißen, die Blume zu pflücken, packt sie brutal am Stiel und reißt sie an sich. In dem Moment, da die letzte Faser durchtrennt ist, zerfällt dieses, einst so herrliche Geschöpf, in seinen Händen zu Staub, rieselt zwischen seinen Fingern langsam zu Boden. …

Zauberwald mit Blumen, Schmetterlingen und Glühwürmchen
  • … Noch bevor die Traurigkeit, die er nun in sich aufkommen spürt, sich richtig entfalten kann, entspringt aus dem dürren Stummel, an dem zuvor noch die prächtige Blume gewachsen war, wie aus dem Nichts, ein herrlicher Schmetterling, von elfengleicher Grazie, das seine gesamte Aufmerksamkeit sofort in Beschlag nimmt. Die filigranen Flügel des luftigen Wesens spielen mit den Sonnenstrahlen, die flackernd zwischen den Baumkronen hindurch dringen, und so die prächtigsten Lichtspiele darin veranstalten. Im Nu war die Blume vergessen und seine Trauer über das Vergehen der Blume wie hinweg geblasen. „Der Schmetterling, ach der Schmetterling. Er ist so viel schöner und prachtvoller als die Blume.“ Er könnte ihn ewig betrachten, einfach nur zusehen, wie er, seine glanzvollen Flügel elegant schwingend, vor seinen Augen schwebt. „Viel besser wäre es aber, den zauberhaften Schmetterling zu besitzen.“ Kaum war der Gedanke zu Ende gedacht, schon greift seine Hand nach dem edlen Geschöpf. Geschickt weicht der Schmetterling aus und erhebt sich höher in die Lüfte. „Ach, wie schön wäre das Leben, hätte ich nur diesen Schmetterling.“

    Noch während er sich überlegt, wie er ihn einfangen könnte... „Tim!“ hallt es in seinem Kopf. Es ist Lucille’s zarte Stimme, die ihn aus seinem Wahn reißt. Im selben Moment wird sein Geist etwas klarer und der eigentliche Grund für seinen Aufenthalt in diesem Wald fällt ihm wieder ein. Für einen kurzen Moment empfindet er einen Anflug von Mitgefühl für den edlen Flieger und will ihm die Freiheit lassen, um gleich darauf wieder zu beschließen, den Schmetterling auf dem Rückweg doch noch einzufangen. Denn sein Leben wäre nur vollständig, wenn er dieses herrliche Geschöpf besitzen würde. Gleichzeitig verspürt Tim einen Stich in der Magengrube, ausgelöst durch den Ärger und das Bedauern darüber, dass er die schöne Blume leichtfertig verloren hatte. Abermals ertönt Lucille’s Stimme: „Tim!“ Es dämmert ihm, dass er, falls er sie bei Tageslicht noch erreichen wollte, sich unverzüglich wieder auf den Weg machen muss. Zu viel Zeit hatte er verloren, durch die vielen Ablenkungen am Wegesrand. Lucille hatte inzwischen einen zu großen Vorsprung. Ob er diesen wieder aufholen kann? Jedenfalls wird es ihn eine Extraportion Kraft und Energie kosten.

    Da die Fährte von Lucille im Dickicht, durch das er sich zu kämpfen hat, kaum mehr auszumachen ist, muß er sich jetzt völlig auf sein Gespür verlassen, um nicht in eine falsche Richtung abzudriften. Er atmet ein paar Mal tief durch; es liegt ein Hauch von Abendduft in der Luft. Mit jedem Atemzug wird sein Geist klarer, im Inneren verspürt er eine deutliche Ahnung, in welche Richtung sein Weg sich weiter fortsetzen sollte. Tim beschließt, sich von nun an ausschließlich auf seinen Weg und sein Ziel zu konzentrieren und die aufkommenden Ablenkungen, so verlockend sie auch sein mögen, zu ignorieren.

    Nun, wieder klaren Verstandes, setzt Tim seinen Weg voller Zuversicht fort. Obwohl weit und breit keine Spur von Lucille zu erkennen ist, kann er spüren, dass er sich noch auf dem richtigen Weg befindet. Er weiß genau, dass er sie ganz bestimmt finden wird. Ohne sie weiterleben zu müssen, das kann und will er nicht. Obwohl es, nach all den gefühlt endlosen Stunden, die er durch den seltsamen Wald geirrt war, eigentlich schon dunkel sein müsste, ist es immer noch taghell. Wobei er nicht sagen könnte, wie lange er schon unterwegs war, da er jegliches Gefühl für Zeit verloren hat. Es könnten Stunden oder Tage gewesen sein. Aber, da er am Morgen losgelaufen war, und es noch hell ist, konnte es sich nur um Stunden handeln.

    In seinen Gedanken über die Zeit, merkt Tim nicht, dass der Wald lichter geworden ist, und die Bäume mehr Sonnenlicht durchlassen. Mit jedem weiteren Schritt spürt er, wie die Zuversicht in ihm wächst, und das Vertrauen darüber, dass er Lucille auf jeden Fall finden würde, weil er alles dafür tun will. Er weiß, dass es so sein wird, er kann es tief in seinem Inneren spüren. Er weiß, dass er darauf vertrauen kann, weil es seine Bestimmung ist, sie zu finden. In Gewissheit dessen, bleibt er plötzlich stehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit ist er völlig entspannt – eine tiefe innere Ruhe setzt ein. Ohne zu merken, wie er hier hin gekommen ist, steht er nun am Waldrand. Er tritt mit einem großen entschlossenen Schritt aus dem Wald heraus und bleibt erneut stehen. Sofort spürt er die Wärme des Tageslichts in seinem Gesicht. Die Sonne strahlt am Himmel so rein und golden, wie er sie noch nie zuvor wahrgenommen hatte.

    Hier steht er nun, und blickt auf die unendliche Weite, die sich vor ihm auftut. Nichts als Weite – soweit seine Augen sehen können. Er sucht nach einem Horizont, einem Punkt, der seinen Blick auffängt, auf dem er ruhen kann; aber da ist kein Ende auszumachen. Es kommt ihm vor, als stünde er am Rand der Erde, am Ende der Welt, als blickte er ins Nichts. Doch da – plötzlich ein Felsvorsprung. ...

Der Ruf der Eule

Eine Geschichte über die innere Weisheit.

... Auf ihrer Reise durchquerte sie grüne Täler und schneebedeckte Berge. Ihr Weg führte sie zu sagenumwobenen Orten, wo die Luft von Magie und altem Wissen durchdrungen war, durch Landschaften, die so schön wie geheimnisvoll waren. Sie hörte das Flüstern alter Bäume und das Schweigen von Steinen, die Geschichten von Jahrtausenden trugen. Die Welt schien voller Zeichen zu sein, aber sie blieben unergründlich, wie verschlossene Bücher, deren Seiten sie nur erahnen konnte. …

Weiße Eule sitzt in Baum und Mond am Himmel
  • … Manchmal glaubte sie, flüsternde Stimmen im Wind zu hören, die von einem Ort erzählten, wo alle Geheimnisse offenbart wurden. Doch inmitten dieser Schönheit wuchs auch die Unsicherheit. Es gab Momente, in denen sie den Weg aus den Augen verlor, Zeiten, in denen sie von Zweifel und Erschöpfung übermannt wurde.

    Doch sie gab nicht auf und setzte ihren Weg fort, fest entschlossen, dass ihre Reise sie zu den Antworten führen würde. Sie wollte die Sprache der Sterne entziffern, die Geheimnisse des Lebens entschlüsseln, die Frage nach dem Warum und dem Wie endlich verstehen.

    Immer, wenn sie am meisten zweifelte, spürte sie eine Präsenz in der Luft – als ob etwas sie behutsam beobachtete, unsichtbar und doch immer da.

    Eines Nachts, als der Vollmond seinen Schein über das Land ergoss, setzte sich Aelitha an den Rand eines hohen Felsens, der weit über den Wald ragte. Sie fühlte sich verloren, wie ein Blatt im Wind, das keinen Baum mehr kennt, zu dem es gehört. Es war in diesem Moment der tiefsten Unsicherheit, dass sich die Nacht selbst zu bewegen schien und tiefe Dunkelheit wie einen bleiernen Mantel um sie legte.

    Wie aus dem Nichts, landete plötzlich eine Eule lautlos auf einem Ast in ihrer Nähe. Ihre Augen leuchteten wie die ältesten Sterne am Firmament. Ihr Gefieder war schneeweiß und schimmerte, als hätte es das Licht des Mondes eingefangen. Die Augen der Eule, golden und durchdringend, fixierten sie, und Aelitha spürte, dass dieses Wesen mehr war als ein Tier. Es war, als würde es in sie hineinsehen, bis auf den Grund ihrer Seele.

    „Man nennt mich Solaneth“, sprach die Eule mit einer Stimme, die in Aelithas Herz wie Donner und zugleich wie ein sanfter Regen klang. Solaneth, die Weise, die Seherin, die Flüsterin alter Wahrheiten, die nur im Wind zu finden sind. „Ich bin die Stimme, die im Sturm zu dir spricht, die du oft überhörst. Ich komme, um dich an das zu erinnern, was du längst weißt, aber vergessen hast.“ Ihre Worte klangen klar, wie das Rauschen alter Wälder und das Flüstern der Winde.

    Aelitha schaute Solaneth weiterhin in die Augen, und es war, als blickte sie in einen Spiegel, der nicht nur ihr Gesicht, sondern ihre Seele reflektierte.

    „Die Dunkelheit umgibt dich nur, weil du den Blick vom Licht abgewendet hast. Wenn die Wolken den Himmel bedecken, vergisst man, dass die Sterne immer noch da sind.“, sagte Solaneth und sah sie mit ihren unendlich weisen Augen an.

    „Doch warum fühlt sich alles so schwer an?“ fragte Aelitha leise. „Ich habe den Glauben verloren, dass ich den richtigen Weg gehe.“

    „Manche Pfade liegen nicht vor deinen Füßen, sie fließen unter deiner Haut, unentdeckt, du musst nur bereit sein, sie zu gehen.“

    Aelitha schwieg, doch tief in ihr erhob sich ein Echo dieser Worte, und sie spürte, wie sie sich leichter fühlte. Sie spürte, wie der Nebel in ihrem Geist sich langsam hob, und eine tiefe Klarheit ergriff sie. …

Copyright © 2025 Christiane Possmayer / Lyrigrafie